7. September 2020

The Winner takes it all

Artikelserie: Plattformen und Ökosysteme – Teil 1/9: „Grundlagen“

Glauben Sie, dass Ihr Unternehmen in einigen Jahren noch dasselbe macht, wie heute? Die Chance ist groß, dass es nicht so ist.

Tradierte Branchengrenzen und produktorientierte Geschäftsmodelle gehören immer mehr der Vergangenheit an. Der Wettbewerb verlagert sich in bedürfnisorientierte plattformbasierte Ökosysteme. Dabei handelt es sich um Beziehungsgefüge, die das Bedürfnisbild zu einer spezifischen Lebenswelt oder einem spezifischen Themenfeld („rund um etwas“) möglichst vollständig abdecken. Geprägt wird das Vorgehen dabei von dem Ambitionsniveau, dem Nutzer „das Leben so einfach wie möglich“ zu machen. Das sichert den Kundenzugang. Beeindruckende Beispiele für Ökosysteme sind u.a. Airbnb, Apple, Amazon, Facebook, Uber, Ping An („Good Doctor“).

Diese Artikelserie zeigt auf, welche Bedeutung plattformbasierte Ökosysteme bereits heute spielen und mit Sicherheit in den nächsten Jahren spielen werden. Und wir erläutern, welche Erfolgsfaktoren im Rahmen eines aktiven Managements berücksichtigt werden müssen. In weiteren Artikeln gehen wir auf Grundlagen, Erfolgsfaktoren, mögliche Rollen innerhalb des Plattformkonstrukts sowie beispielhafte plattformbasierte Ökosysteme ein.

In dem vorliegenden ersten Teil geht es um die Grundlagen zu plattformbasierten Ökosystemen. Wir haben festgestellt, dass die Begriffe "Plattform" und "Ökosysteme" oftmals sehr unterschiedlich benutzt werden und wollen daher zunächst ein einheitliches Verständnis schaffen.

Abbildung 1: Struktur Plattform und Ökosysteme

Für diese Artikelserie gelten folgende Definitionen:

Bei einer Plattform handelt es sich um ein technisches Medium, auf dem eine Vielzahl von Anbietern und Nachfragern zusammenkommt, um sich miteinander zu verbinden, zu interagieren und um komplementäre Informationen, Waren, Dienstleistungen, Technologien und Währungen (z.B. Geld, aber auch Kryptowährungen, Bewertungen, Likes) mit Wert für den Nutzer auszutauschen.1

Der Begriff des Ökosystems hat seinen Ursprung in der Biologie. Ökosysteme beschreiben üblicherweise Beziehungsgefüge von Lebewesen untereinander, in einem spezifischen Lebensraum einer bestimmten Größenordnung.

Im ökonomischen Kontext handelt es sich bei einem plattformbasierten Ökosystem um ein Beziehungsgeflecht von Partnern, die in Bezug auf eine bestimmte menschliche oder organisationale Bedürfnis- bzw. Lebenswelt Schlüsselkomponenten des Leistungsversprechens (Kundennutzen) ihrer Produkte oder Dienstleistungen integriert bereitstellen. Mit anderen Worten: Ökosysteme entstehen durch die kontextbezogene Integration von Ressourcen zu einem bestimmten Themenfeld. Der erzielte Kundennutzen übersteigt dabei den Nutzen der Summe der einzelnen Leistungen der am Ökosystem beteiligten Unternehmen. Ziel ist es, zu „der“ Anlaufstelle für den Kunden zur Erfüllung von Produkt- und Servicewünschen zu einem Themenfeld zu werden und den Kunden damit an das eigene System zu binden, das der Kunde immer wieder freiwillig ansteuert. Warum er das tut? Weil der Kunde in diesem plattformbasierten Ökosystemen im Idealfall alles zu einem Thema findet, das er als relevant erachtet und ihm die Nutzung der Plattform das Leben erleichtert.

Dabei bewerten Kunden oft die mit der Plattform gemachten positiven Erfahrungen höher als die Preisunterschiede, die sie bis zu einer gewissen Preistoleranz dulden. Diesen Effekt kennen sicher viele aus dem Umgang mit der Plattform Amazon. Auch wenn manche Artikel teurer sind als bei anderen Anbietern, so ist der kundenfreundliche Kaufprozess, die hohe Convenience sowie der exzellente Service bei Retouren oder Erstattungen derart überzeugend, dass ein leicht höherer Preis nicht ins Gewicht fällt. Erfolgreiche Plattformen erhalten so die Chance, eine marktbeherrschende Stellung im Sinne der „Winner-takes-it-all“-Logik einzunehmen.2

Plattformbasierte Ökosysteme unterscheiden sich nachhaltig von den gängigen pipelinebezogenen Geschäftsmodellen. „Pipeline“ deshalb, weil die Wertschöpfung horizontal und unidirektional angeordnet ist. Häufig sieht die Wertschöpfung in Anlehnung an Porter3 wie folgt aus: Beschaffung, Eingangslogistik, Auftragsannahme, Produktion, Marketing, Verkauf, After-Sales. Auf der einen Seite kommt etwas rein, auf der anderen kommt etwas Neues raus. Dann folgt eine Feedbackschleife und es geht von Neuem los. Ein weiteres Charakteristikum pipelinebezogener Modelle liegt in der 1:n-Beziehung, d.h. ein einzelnes Produktions- oder Dienstleistungs-Unternehmen wendet sich an eine Vielzahl von Nachfragern.

Plattformen hingegen sind sogenannte multi-sided-Geschäftsmodelle. Diese zeichnen sich durch n:n-Beziehungen aus und unterscheiden sich dadurch grundlegend von pipeline-bezogenen Geschäftsmodellansätzen mit ihrem 1:n-Beziehungsgefüge. Bei Plattformen steht eine Anzahl von n-Anbietern einer Anzahl von n-Nachfragern gegenüber. Im Fokus liegt die ganzheitliche Ausrichtung auf ein Themenfeld sowie das zugehörige Produzenten-Netzwerk und nicht mehr das aus Sicht des Kunden eher eingeschränkte Angebotsspektrum eines einzelnen Produktions- oder Dienstleistungsunternehmens zu einem Thema. Ein Pipeline-Geschäftsmodell wird vor diesem Hintergrund auch nicht nur durch eingegangene Produkt- oder Vertriebskooperationen zu einem multi-sided-Geschäftsmodell. Es bleibt was es ist. Aus der 1:n-Beziehung wird maximal eine 2:n-Beziehung. Damit ist man aber noch weit entfernt von den Charakteristika eines plattformbasierten Ökosystems.

Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass Ökosysteme sich an den Lebenswelten des Kunden orientieren und sich nicht mehr spezifischen Branchen zuordnen lassen. Tradierte Branchengrenzen verschwimmen. So bietet Apple bspw. Kreditkarten an, Uber ist im Logistiksektor aktiv und der Versicherer Ping An engagiert sich seit Jahren erfolgreich im Ökosystem Health und hat seit 2015 mit dem Ansatz „Good Doctor“ ein beeindruckendes plattformbasiertes Gesundheitsökosystem geschaffen, bei dem die Versicherung als Solche nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Die Ertragsmöglichkeiten sind längst andere und ergeben sich aus dem Betreiben der Health-Plattform.

Auch andere ehemalige Branchenvertreter richten ihr Geschäftsmodell auf Ökosystemen aus. Das Ambitionsniveau des Handels orientiert sich dabei vor allem an den Ansprüchen der ganzheitlichen Ausrichtung und der konsequenten Kundenorientierung. Letzterem liegt der bereits vorab erwähnte Ansatz zugrunde, dem Kunden „das Leben in seiner Bedürfniswelt so einfach wie möglich zu machen“. So hat VW bereits 2018 den Anspruch formuliert, für den Kunden das größte Automobilökosystem anzubieten. Man werde natürlich noch weiter Autos bauen, aber im Fokus stehe die Idee der „Devices on Wheels“.4 BMW und Daimler treten mit YourNow in das Ökosystem „Mobility“ ein. YourNow stellt die „Zukunft der urbanen Mobilität mit dem Menschen im Mittelpunkt“ und nicht das Auto in den Vordergrund .5 Und mit Wedolo (Initiatoren sind KRAVAG, BGL und SVG) ist seit kurzem eine Logistik-Plattform aktiv, die den Anspruch formuliert, dem Straßenverkehrsgewerbe – vor allem aber den Fernfahrern selbst - das tägliche Geschäft zu erleichtern.6

Dass sich Branchengrenzen zunehmend verschieben, kann man auch am Beispiel eines Autoversicherungsschadens sehen. Wie der nachstehenden Abbildung zum Ökosystem Schaden zu entnehmen ist, können sich potenziell vier unterschiedliche Branchen durch die Erweiterung ihres jeweiligen Leistungsspektrums Zugang zu diesem attraktiven Markt verschaffen. Funktionen werden voneinander losgelöst und Kernkompetenzen neu ausgelotet. Somit besteht für jedes Unternehmen grundsätzlich die Möglichkeit, an anderen Branchen zu partizipieren bzw. spezifische Ökosysteme zu adressieren, die ihnen bislang verschlossen geblieben sind. Dadurch entstehen sogenannte Cross-Industry-Netzwerke, die für viele Unternehmen relevant werden und das traditionelle Rollenbild in Frage stellen.

Abbildung 2: Verschiebung von Branchengrenzen7

Viele Unternehmen widmen sich bereits seit Jahren den Ökosystemen „Home“, „Mobilität“ oder „Health“. Vor allem für Versicherungs- und Energieunternehmen besteht hier die große Chance, eine regelmäßige „Relevanz beim Kunden“ zu erreichen. Denn mit dem für den Kunden in der Regel wenig interessanten Leistungsangebot wird das nicht gelingen. Viele Versicherer und Energiedienstleister nehmen in diesem Kontext daher eine Repositionierung vor.  Vom "Zahler oder Kostenerstatter“ zum „Lebensbegleiter". Oder vom „Versorger“ zum „Energiemanager“. Allerdings bleibt es bislang vielfach bei Überlegungen oder blumigen Formulierungen in überarbeiteten Mission Statements.

Den Übergang vom produktbasierten zum plattformbasierten Geschäftsmodell können in einem ersten Schritt durchaus Produkt- oder Vertriebskooperationen bilden. Zumindest zum Sammeln von Erfahrungen macht das sicher Sinn. Aber mehr kann das aus den vorab geschilderten Gründen nicht sein. Betrachten wir in diesem Zusammenhang bspw. das Ökosystem „Home“. Versicherer erweitern diesbezüglich ihr Angebot (z.B. Hausratversicherungen) um Smart Home-Komponenten, Leckage Systeme, Schlüsseldienstservices oder Rauchmelder. Natürlich haben diese Produkte auch mit „Home“ zu tun. Aber sie genügen nicht dem Anspruch, „rund um zu Hause“ ein aus Kundensicht ganzheitlich aufbereitetes Portfolio an integrierten und korrespondierenden Leistungen anzubieten. Zudem wird meistens im Rahmen der Angebotsofferte auch nur ein Produkt- bzw. Leistungshersteller als Anbieter herausgestellt. (Das Thema „Home“ werden wir in einem der folgenden Artikel entsprechend vertiefen).

Beim n:n-Ansatz hingegen hat der Kunde die Möglichkeit der Auswahl zwischen verschiedenen Anbietern. Er kann vergleichen. Dass dies ein grundlegendes Bedürfnis von Nachfragern ist, hat vor allem Check24 eindrucksvoll bewiesen.

Plattformbasierte Ökosysteme haben ein übergeordnetes Ziel: Die Reduktion von Transaktionskosten (Kosten der Suche, Informationsbeschaffung, Verhandlungsführung, Kauf, Abwicklung). Informationen stehen bei fast allen Transaktionen des menschlichen Lebens im Mittelpunkt. Und weil das so ist und Menschen insbesondere den Aufwand für die Suche nach Informationen im beruflichen und privaten Umfeld minimieren möchten, kann ganz grundsätzlich mittelfristig jede Branche „plattformisiert“ werden.8

Plattformbasierte Ökosysteme ermöglichen ein effizienteres Matchmaking zwischen zwei oder mehreren Parteien zu einem Thema über die Zurverfügungstellung spezifischer Funktionalitäten. Vor allem für diesen Service, sowie für die gesamte Organisation bzw. das Betreiben der Plattform lassen sich die Plattformbetreiber vergüten. Die Höhe der Vergütung ist dabei vom Reifegrad und Erfolg der Plattform abhängig. Weitere erfolgskritische Aspekte sind die Lösung des „Henne-Ei“-Problems, die Wahl eines geeigneten Monetarisierungsansatzes, der Aufbau einer Governance und die Herstellung insbesondere von cross-side-Netzwerkeffekten. Auch diesen Themen werden wir uns in den nächsten Beiträgen widmen.

Wer diesen Weg mitgeht, wird in einigen Jahren sicher nicht mehr das Gleiche tun, wie heute. Aber die Chancen stehen gut, dass Sie es nachhaltig erfolgreich tun.

Mit dieser Artikelreihe werden wir unsere Perspektive auf die Entwicklung plattformbasierter Ökosysteme teilen. Auf die detaillierte Betrachtung von Erfolgsfaktoren folgen Rollen und Positionierungsoptionen sowie die Vertiefung themenspezifischer Ökosysteme.


Quellen:

1: In Anlehnung an Ansgar Baums, Digitale Plattformen – DNA der Industrie 4.0, 2015; https://www.kobil.com/de/was-ist-eigentlich-ein-digitales-oekosystem/);  Matthias Schaefer und Wolfgang Tischler: Ökologie : mit englisch-deutschem Register, Jena, Fischer 1983 (Reihe Wörterbücher der Biologie), http://plattform-maerkte.de/dna/; https://payspacemagazine.com/tech/platform-economy-how-does-it-work; https://www.the-digital-insurer.com/insurance-beyond-digital-the-rise-of-ecosystems-and-platforms; Die Plattform Revolution, Parker/van Alstyne/Choudary 2017

2: Vgl. Spektrum.de, 0.5.10.2017; Ansgar Baums, Digitale Plattformen – DNA der Industrie 4.0, 2015 (https://www.kobil.com/de/was-ist-eigentlich-ein-digitales-oekosystem); Matthias Schaefer und Wolfgang Tischler: Ökologie : mit englisch-deutschem Register, Jena, Fischer 1983 (Reihe Wörterbücher der Biologie); Ansgar Baums, Ansgar Baums, Digitale Plattformen – DNA der Industrie 4.0 (http://plattform-maerkte.de/dna/); Tom Bobrowski, Insurance beyond digital: The rise of ecosystems and platforms (https://www.the-digital-insurer.com/insurance-beyond-digital-the-rise-of-ecosystems-and-platforms/);  Prof. Warg, 2019, Handelsblatt-Konferenz 28./29.8.2019; Vorgehensmodell zum Aufbau eines digitalen Ökosystems, 18. Januar 2018 (https://tme-ag.de/whitepaper/vorgehensmodell-zum-aufbau-eines-digitalen-oekosystems)

3: Vgl. Michael Eugene Porter: Wettbewerbsvorteile (Competitive Advantage). Spitzenleistungen erreichen und behaupten. Aus dem Englischen übers. von Angelika Jaeger. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1986,

4: Jürgen Stackmann, 2018, https://www.volkswagenag.com/de/news/stories/2018/08/volkswagen-develops-the-largest-digital-ecosystem-in-the-automot.html#

5: Vgl. https://www.your-now.com/de

6: Vgl. https://www.wedolo.de

7: In Anlehnung an „Studie Geschäftsmodelle 4.0 – „Was die Assekuranz von anderen Branchen lernen kann“, Versicherungsforen Leipzig GmbH, adesso AG; https://www.adesso.de/adesso/adesso-de/branchen/versicherungen/sonderthemen/ergebnisbroschuere-studie-geschaeftsmodelle40-web.pdf

8: Daniel Tyoschitz, 10 Erfolgsfaktoren der Plattform-Ökonomie, https://www.linkedin.com/pulse/10-erfolgsfaktoren-der-plattform-ökonomie-daniel-tyoschitz/

 

Dr. Alfons Niebuer ist Partner für Versicherungen und Banken bei der Strategieberatung SMP Strategy Consulting. Beratungsschwerpunkte liegen in den Themen Plattformen und Ökosysteme, Transformation von Geschäftsmodellen sowie Omnichannel-Management

Philipp Sanders ist Senior Manager für Banken und Versicherer bei der Strategieberatung SMP Strategy Consulting. Beratungsschwerpunkte liegen in Kunden- und Vertriebsstrategien in der Plattformökonomie